Martins Vermächtnis

Martins Vermächtnis - Was soll das eigentlich sein?


Ich bin Mama von drei unglaublichen Kindern, Jozefina, Miroslav (oder Miro, wie ihn die meisten nennen) und Martin. Unsere Zwillingsjungs haben Autismus und unsere Jozefina ist die fürsorglichste Schwester die ich kenne, ein Mädchen, dass wir Eltern immer daran erinnern müssen, dass sie selbst ein Kind ist und auch sein darf. Jeder der drei ist auf seine Weise einzigartig. 

Martin ist mein Mini-me. Ungeduldig, zornig, wenn er nicht verstanden wird und doch ein riesen Herz. Sein wunderbares, Wärme schenkendes Herz hat am 20.2.2023 aufgehört zu schlagen. Ohne Vorwarnung wurde unser Martin aus dem Leben gerissen. Ertrunken in einem Biotop, bei einem Kindergarten-Ausflug. Als ich den Anruf bekam und anfing nach meinem Baby zu suchen, war er mit hoher Wahrscheinlichkeit schon tot. Als mein Kind die größte Angst seines Lebens durchstehen musste, war ich nicht an seiner Seite. Das erste und einzige Mal, dass er ohne mich, alleine Kämpfen musste. Dieser Gedanke zerreißt mich und schnürt mir die Luft ab. Mein Kind, tot, neben dem Wasser mit offenen, leeren Augen, die Brust die sich nicht mehr Hebt und senkt, dieses Bild hat sich für immer in meine Seele gegraben und hat mein Leben wie es vorher war, für immer beendet. 

Ich bin mir sicher, dass ich ihn eines Tages wieder in eine liebevolle Umarmung ziehen darf und dass er trotz allem in irgendeiner Form an unserer Seite ist. Und doch ist der Schmerz unvergleichbar, unerträglich und so schneidend, dass ich oft nicht weiß, wie ich auch nur einen einzigen Schritt gehen soll. 
Doch ich habe keine Wahl, ich habe hier bei mir noch zwei unglaubliche Kinder, die mich jetzt mehr denn je brauchen, zwei Kinder die selbst im Schlaf um ihren geliebten Bruder weinen. Liebe Mama, du hast keine Zeit in ein Loch zu fallen oder dich zu verkriechen. Egal wie sehr der Schmerz um dein geliebtes Kind dich verbrennt, du gehst weiter, Schritt für Schritt, egal wie sehr das Herz dabei blutet.

Diejenigen von euch die dem Begräbnis beigewohnt haben, erinnern  sich sicher auch, daran was ich meinem Martin während der Trauerrede versprochen habe. Ich habe ihm Versprochen unseren Kampf fortzusetzen, solange ich atme.

Unser Kampf für Akzeptanz und Verständnis von Autismus hat mit meinen Kindern begonnen. Gerade Martin ist in der Gesellschaft stark aufgefallen. Und sein großer Gerechtigkeitssinn und der Wunsch nach Teilhabe in der Gesellschaft war unvergleichbar. 

Ich werde darum kämpfen, dass andere Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene im Spektrum diese Möglichkeit bekommen. 
Ich werde darum kämpfen, dass sie ein Leben führen dürfen, in dem sie als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft gesehen werden. 
Ich werde dafür kämpfen, dass sie die notwendigen Therapien bekommen, dafür dass die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Fast zeitgleich mit unserem kleinen Prinzen Martin, der beim Kiga-Ausflug weggelaufen und ertrunken ist, ist in Hamburg ein 10-jähriger Autist aus der Sonderschule weggelaufen und ebenfalls ertrunken. 
Im Austausch mit anderen Eltern deren Kinder ASS haben, wurde mir bewusst wie viele ihrer Kinder schon aus Kiga, Schule, etc weggelaufen sind. Ein Punkt der den wenigsten bewusst ist. Es kann und darf nicht sein, dass so etwas immer und immer wieder passiert. Denn jeder einzelne dieser Fälle hätte so enden können wie unserer. Sei es im Wasser, auf der Straße oder bei einem Sturz.
Niemand soll diesen unerträglichen Schmerz mehr fühlen müssen. 

In jedem Bereich unseres Systems sind Autisten unterversorgt und ich Frage mich, wie es sein kann, dass für so viele Menschen nichts getan wird. 
Dabei wäre es so einfach. 
Ich habe mich diesem Weg verschrieben, es meinem Sohn versprochen und diejenigen unter euch die mich kennen, wissen auch, dass ich niemals aufhören werde zu kämpfen, niemals aufgeben werde, schon gar nicht, wenn es um meine Kinder geht. Denn meine Kinder sind mein Leben.

Ich bin Mama von drei Kindern und werde es auch für immer sein, auch wenn mein Martin auf der anderen Seite des Regenbogens ist, ist er doch immer in meinem Herzen und meinen Gedanken. 

Mein kleiner Prinz ich liebe dich bis ans Ende meiner Tage und weit darüber hinaus. Denn diese Liebe endet niemals. Und ich verspreche dir, dein Vermächtnis aufzubauen, denn dein Tod wird das Sinnbild sein, für etwas das nie wieder geschehen darf und soll der Anfang sein, für eine bessere Welt. 
Ich liebe dich kleiner Hase.

Unser Leben mit Autismus

Was ist eigentlich Autismus? 


Uns erreichen in letzter Zeit immer wieder Fragen zum Thema Autismus, vor allem aber was das eigentlich wirklich genau ist. Bis hin zu der Frage ob unser kleiner Martin an seinem Autismus verstorben ist. 


Deshalb habe ich beschlossen, eine sehr komprimierte aber hoffentlich für alle, verständliche Erklärung niederzuschreiben.


Eine Autismusspektrum-Störung, kurz ASS genannt, gilt als tiefgreifende Entwicklungsstörung. Dabei können mehrere Lebensbereiche betroffen sein. Etwa die soziale Interaktion, die Motorik, das Sprachverständnis, oder intellektuelle Fähigkeiten, etc.

Viele Menschen sehen, wenn sie an einen Autisten denken, einen schrulligen Eigenbrötler, der mit niemandem klar kommt, aber in irgendeinem Gebiet ein Genie ist (meistens gehen die Leute von IT, Mathematik oder Physik aus).


Tatsächlich sind diese Spezialgebiet-Genies, Savants genannt, gar nicht so häufig. Wäre dies nämlich tatsächlich so, könnte man wohl mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass die meisten Probleme unserer Welt bereits gelöst wären. 

Denn rund 2% der Bevölkerung ist von einer ASS betroffen. (Also 1 von 50, das ist nicht wenig.) 

Man möge sich ausrechnen, wie viele geniale autistische Wissenschaftler, diesem Denken nach auf unserem Planeten wandeln. 


Tatsache ist, diese Savants sind gar nicht so häufig. 

Was bedeutet dieses Bild aber nun für Familien?

Abgesehen davon, dass unsere autistischen Kinder ohnehin schon sehr genau beäugt und für ihr Verhalten kritisiert werden, steigt damit auch der Druck. "Denn wenn sich das Kind schon so merkwürdig verhält, dann soll es doch bitte auch ein Genie sein, am besten schon mit 6 Jahren." 

Nun ist es aber so, dass diese Vorstellung absolut nicht der Realität entspricht und manchmal habe ich das Gefühl, dass Eltern ihre Kinder im Spektrum, dann sogar ganz unbewusst verstecken, aus Schutz dem Kind gegenüber und aus Selbstschutz. Leider führt dies zu noch mehr Unwissen innerhalb der Gesellschaft.


Aber was nun bedeutet Autismus? 

Am einfachsten lässt es sich erklären, mit einer Datenverarbeitungsstörung. Das Hirn eines Autisten nimmt viel mehr Daten auf einmal auf als unseres, wenn ich es jetzt richtig im Kopf habe, mindestens zweieinhalb Mal soviele Daten auf einmal. Allerdings fehlen zur Verarbeitung die notwendigen Filter. 

Ich unterhalte mich mit jemandem, nebenbei Zwitschern die Vögel, ein Auto fährt vorbei, irgendwo in weiter Ferne hört man das Piepsen eines LKWs. Ich folge dem Gespräch und nehme die anderen Geräusche, wenn dann nur am Rande wahr.


Mein Sohn hingegen hört alle diese Dinge und noch viel mehr auf einmal, allerdings filtert hier das Gehirn nicht richtig, was davon relavant ist. Somit strömen all diese Geräusche auf einmal auf ihn ein. So verhält es sich auch mit den anderen Sinnesorganen. Allein die Vorstellung daran, fällt mir persönlich schwer, macht mich nervös und laugt aus.

Man versteh also, dass Menschen im Spektrum eine ganz andere Wahrnehmung haben.


Im Zuge dieser Überreizung kann es dann leicht zu einem Meltdown kommen. (Ein Meltdown ist meist das was die Gesellschaft als nicht erzogenes, furchtbares Benehmen wahrnimmt.) Vor allem dann, wenn noch nicht die richtigen Strategien zur Regulierung entwickelt sind. 

Man kann es vielleicht veranschaulichen, mit einem Topf Wasser am Herd: 

Ich fülle Wasser in einen Topf, gebe einen Deckel drauf und  schalte den Herd auf die höchste Stufe. 

Das Wasser wird beginnen zu kochen, irgendwann pfeift der aufsteigende Dampf zwischen Topf und Deckel durch. Wenn ich jetzt nicht weiß, dass ich den Deckel abnehmen muss, und den Herd zurückdrehen, dann wird der Inhalt überlaufen. Auch wenn ich es weiß und zu langsam reagiere, ist das Ergebnis das Gleiche.


Und hier muss man ganz klar machen:

Jeder Autist ist anders, ebenso wie die  Regulations-Strategien die der oder die Betroffenene braucht. 

Autismus ist nicht heilbar, es ist ja auch keine Krankheit.

Wenn eine ASS aber früh erkannt wird, Kann man eigentlich sehr gut fördern und unterstützen und natürlich auch die richtigen Regulations-Strategien erlernen. 

Es ist nicht leicht, aber definitiv nicht unmöglich. Dafür braucht es aber vor allem: Verständnis,  Akzeptanz und Integration und natürlich ganz viel Liebe und Geduld.

Von der Familie, vom Umfeld, von Kindergärten und Schulen und der Gesellschaft. 

Dies wird allerdings nur mit viel Aufklärungsarbeit möglich sein. 

Denn wie wir sehen, wissen wir viel zu wenig und glauben doch alles zu wissen.


Auszeit

Hier sitze ich. Am Laptop laufen alte Videos, um mich herum liegen Fotoausdrucke am Boden, von den Bildern an den Wänden, lächelt mir strahlend eine Familie entgegen – eine Familie, die so nicht mehr existiert. Ich nehme ein Foto in die Hand und habe das Gefühl ich sitze in meinem Meer aus Glasscherben und bei jeder Bewegung, schneidet das Glas. Jede Bewegung schmerzt und jeder Atemzug versucht mich umzubringen. So fühlt sich das Leben heute an – mein Leben.
Ich brauche nicht in den Kalender zu blicken, um zu wissen, dass sich in einem Monat dein Todestag zum zweiten Mal jährt. Ich weiß immer ganz genau, wie viel Zeit ohne dich vergangen ist. Und doch verstehe ich es nicht. Zeit ist etwas Merkwürdiges geworden. Der Schmerz fühlt sich unendlich an und manchmal fühlt es sich so an, als wüsste ich nicht mehr was glücklich sein bedeutet. Vielleicht deshalb, weil unser altes, unser glückliches Leben, in so weiter Ferne liegt. Schon viel zu lange, müssen wir alle diesen Schmerz ertragen. Und doch kann ich nicht begreifen, dass schon so viel Zeit vergangen sein soll. Habe ich dich nicht gestern erst, in meinen Armen gehalten und getröstet? Hast du mir nicht gestern erst ein Spielzeug gegen den Kopf geworfen, weil du so wütend auf mich warst? Habe ich dich nicht gestern erst gewickelt und den Schlaf gekuschelt? Habe ich dir nicht gestern erst, den allerletzten Abschiedskuss gegeben?
Ich verstehe es nicht. Jeden verdammten Tag quält mich die Frage nach dem Wie und dem Warum. Ich kann Theorien anstellen, ich kann diesen beschissen Weg zum hunderttausendsten Mal abgehen und doch werde ich niemals wissen, was an diesem 20. Februar wirklich passiert ist. Die Fragen quälen mich und begleiten mich tagein und tagaus. Sogar wenn ich nachts schlafe, ist es mir nicht vergönnt, dich wenigstens da zu sehen. So wunderschön und lebenslustig wie du warst. Nein selbst in meinen Träumen weiß ich, dass du tot bist, oder aber ich muss dir beim Sterben zusehen und bin dabei wie gelähmt. Ich versuche zu dir zu laufen, doch egal wie schnell ich laufe, ich komme nicht vom Fleck. Immer und immer wieder, durchlebe ich die gleichen furchtbaren Albträume. Immer wieder bin ich zu spät. Und ich weiß, dass ich niemals abschließen kann. Ich weiß, dass mich für den Rest meines Lebens, diese Fragen beschäftigen werden. Ich werde niemals wissen, was an diesem Tag wirklich passiert ist. Ja, ich habe Angst vor der Wahrheit, denn ich weiß, dass sie egal wie sie ausfällt, weh tut und doch treibt mich dieses Unwissen schier in den Wahnsinn. So viele Fragen sind offen und werden es wohl für immer bleiben. Ich habe Angst daran zu zerbrechen, denn ich weiß, das darf ich nicht. Da sind noch Fini und Miro, mein Ankerpunkt und gleichzeitig sind sie auch diejenigen die mir die grausame Realität vor Augen führen. Ich sehe die beiden an und sehe wie groß sie schon geworden sind und weiß plötzlich wieder, dass ich nicht erst gestern wieder in meinen Armen halten durfte. Ich sehe wie groß sie sind und ich weiß, dass wir alle dich schon viel zu lange vermissen.
In einem der Videos höre ich dein wunderschönes Lachen und anhand deines Tonfalls, weiß ich wie sehr du dich freust mich ausgetrickst zu haben. Ich kenne jedes der Videos auswendig. Sie sind meine einzige Möglichkeit, deine Stimme zu hören. Denn ich habe Angst kleiner Martin. Ich habe Angst, dich zu vergessen. Alles in mir tut so unbeschreiblich weh, seit du nicht mehr da bist. Ich bin es so leid mich jeden Tag dazu aufzuraffen aufzustehen und einen neuen Tag ohne dich begehen zu müssen. Ich halte das nicht aus. Du fehlst mir so unendlich mein kleiner Liebling. Die Tränen laufen schon seit Stunden. Denn der Vormittag heute ist nur für dich freigehalten. Viel zu oft muss ich meine Trauer und den Schmerz verbergen. Aber sie sind meine permanenten Begleiter. Sie gehören zu mir.
Ich blicke auf die Fotos und sehe eine glückliche Familie. Ich sehe die Müdigkeit in den Augen der Eltern – aber ich sehe vor allem eines – ich sehe unendliche Liebe.
Wir waren glücklich. Auch wenn unser Leben ganz anders war, als wir es uns vorgestellt hatten – so war es doch für uns perfekt. Unser chaotisches, lautes und für viele auch merkwürdiges Familienleben, wäre sicher nicht jedermanns Traum. Doch für uns war es das Schönste, dass wir uns nur wünschen konnten. Nein es war nicht leicht. Aber wir sind gerade durch alle Schwierigkeiten zusammengewachsen und haben gelernt, dass nichts im Leben selbstverständlich ist und genau das hat uns gezeigt, wie glücklich wir eigentlich sind.
Heute sind wir nur zu viert und trotzdem bist du immer irgendwie bei uns. Auch wenn wir alle zu kämpfen haben, versuchen wir doch zumindest dir zu ehren, alles zu geben, um eines Tages wieder glücklich zu sein. Denn du kleiner Martin hast es geliebt zu lachen.
Du hast das Leben geliebt.
Ich blicke in die Augen deiner Geschwister und obwohl da so viel Trauer ist, ist da auch so viel Stärke – Stärke, für die sie eigentlich viel zu jung sind. Wir alle sind zu Kämpfern geworden. Jeden Tag führen wir alle einen Überlebenskampf und einen Kampf um das Leben nicht nur zu überleben, sondern eines Tages wieder wirklich zu erleben.
Wir lieben dich Hase und wir tragen dich und dein Andenken weiter auch wenn der Weg schwer ist. Denn ich habe dir ein Versprechen gegeben – ein Versprechen, dem sich so viele Menschen angeschlossen haben und dafür bin ich, aber auch dein Papa und deine Geschwister unendlich dankbar. Es ist schwer stark zu sein, doch genau das sind wir geworden. Immer wieder müssen wir unsere Emotionen unter Kontrolle halten, einfach um diesen Weg zu gehen und auch damit ich mein Versprechen einhalten kann. Doch damit wir das schaffen, brauchen wir alle manchmal auch einfach eine ganz bewusste Auszeit – eine Auszeit um ganz bewusst zu trauern, eine Auszeit, die nur für den Schmerz, die Trauer und die Wut freigehalten wird. Nur dadurch schaffen wir es weiter zu kämpfen.
Wir lieben dich kleiner Martin im Regenbogen.

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Auszeit

Hier sitze ich. Am Laptop laufen alte Videos, um mich herum liegen Fotoausdrucke am Boden, von den Bildern an den Wänden, lächelt mir strahlend eine Familie entgegen – eine Familie, die so nicht mehr existiert. Ich nehme ein Foto in die Hand und habe das Gefühl ich sitze in meinem Meer aus Glasscherben und bei jeder Bewegung, schneidet das Glas. Jede Bewegung schmerzt und jeder Atemzug versucht mich umzubringen. So fühlt sich das Leben heute an – mein Leben.
Ich brauche nicht in den Kalender zu blicken, um zu wissen, dass sich in einem Monat dein Todestag zum zweiten Mal jährt. Ich weiß immer ganz genau, wie viel Zeit ohne dich vergangen ist. Und doch verstehe ich es nicht. Zeit ist etwas Merkwürdiges geworden. Der Schmerz fühlt sich unendlich an und manchmal fühlt es sich so an, als wüsste ich nicht mehr was glücklich sein bedeutet. Vielleicht deshalb, weil unser altes, unser glückliches Leben, in so weiter Ferne liegt. Schon viel zu lange, müssen wir alle diesen Schmerz ertragen. Und doch kann ich nicht begreifen, dass schon so viel Zeit vergangen sein soll. Habe ich dich nicht gestern erst, in meinen Armen gehalten und getröstet? Hast du mir nicht gestern erst ein Spielzeug gegen den Kopf geworfen, weil du so wütend auf mich warst? Habe ich dich nicht gestern erst gewickelt und den Schlaf gekuschelt? Habe ich dir nicht gestern erst, den allerletzten Abschiedskuss gegeben?
Ich verstehe es nicht. Jeden verdammten Tag quält mich die Frage nach dem Wie und dem Warum. Ich kann Theorien anstellen, ich kann diesen beschissen Weg zum hunderttausendsten Mal abgehen und doch werde ich niemals wissen, was an diesem 20. Februar wirklich passiert ist. Die Fragen quälen mich und begleiten mich tagein und tagaus. Sogar wenn ich nachts schlafe, ist es mir nicht vergönnt, dich wenigstens da zu sehen. So wunderschön und lebenslustig wie du warst. Nein selbst in meinen Träumen weiß ich, dass du tot bist, oder aber ich muss dir beim Sterben zusehen und bin dabei wie gelähmt. Ich versuche zu dir zu laufen, doch egal wie schnell ich laufe, ich komme nicht vom Fleck. Immer und immer wieder, durchlebe ich die gleichen furchtbaren Albträume. Immer wieder bin ich zu spät. Und ich weiß, dass ich niemals abschließen kann. Ich weiß, dass mich für den Rest meines Lebens, diese Fragen beschäftigen werden. Ich werde niemals wissen, was an diesem Tag wirklich passiert ist. Ja, ich habe Angst vor der Wahrheit, denn ich weiß, dass sie egal wie sie ausfällt, weh tut und doch treibt mich dieses Unwissen schier in den Wahnsinn. So viele Fragen sind offen und werden es wohl für immer bleiben. Ich habe Angst daran zu zerbrechen, denn ich weiß, das darf ich nicht. Da sind noch Fini und Miro, mein Ankerpunkt und gleichzeitig sind sie auch diejenigen die mir die grausame Realität vor Augen führen. Ich sehe die beiden an und sehe wie groß sie schon geworden sind und weiß plötzlich wieder, dass ich nicht erst gestern wieder in meinen Armen halten durfte. Ich sehe wie groß sie sind und ich weiß, dass wir alle dich schon viel zu lange vermissen.
In einem der Videos höre ich dein wunderschönes Lachen und anhand deines Tonfalls, weiß ich wie sehr du dich freust mich ausgetrickst zu haben. Ich kenne jedes der Videos auswendig. Sie sind meine einzige Möglichkeit, deine Stimme zu hören. Denn ich habe Angst kleiner Martin. Ich habe Angst, dich zu vergessen. Alles in mir tut so unbeschreiblich weh, seit du nicht mehr da bist. Ich bin es so leid mich jeden Tag dazu aufzuraffen aufzustehen und einen neuen Tag ohne dich begehen zu müssen. Ich halte das nicht aus. Du fehlst mir so unendlich mein kleiner Liebling. Die Tränen laufen schon seit Stunden. Denn der Vormittag heute ist nur für dich freigehalten. Viel zu oft muss ich meine Trauer und den Schmerz verbergen. Aber sie sind meine permanenten Begleiter. Sie gehören zu mir.
Ich blicke auf die Fotos und sehe eine glückliche Familie. Ich sehe die Müdigkeit in den Augen der Eltern – aber ich sehe vor allem eines – ich sehe unendliche Liebe.
Wir waren glücklich. Auch wenn unser Leben ganz anders war, als wir es uns vorgestellt hatten – so war es doch für uns perfekt. Unser chaotisches, lautes und für viele auch merkwürdiges Familienleben, wäre sicher nicht jedermanns Traum. Doch für uns war es das Schönste, dass wir uns nur wünschen konnten. Nein es war nicht leicht. Aber wir sind gerade durch alle Schwierigkeiten zusammengewachsen und haben gelernt, dass nichts im Leben selbstverständlich ist und genau das hat uns gezeigt, wie glücklich wir eigentlich sind.
Heute sind wir nur zu viert und trotzdem bist du immer irgendwie bei uns. Auch wenn wir alle zu kämpfen haben, versuchen wir doch zumindest dir zu ehren, alles zu geben, um eines Tages wieder glücklich zu sein. Denn du kleiner Martin hast es geliebt zu lachen.
Du hast das Leben geliebt.
Ich blicke in die Augen deiner Geschwister und obwohl da so viel Trauer ist, ist da auch so viel Stärke – Stärke, für die sie eigentlich viel zu jung sind. Wir alle sind zu Kämpfern geworden. Jeden Tag führen wir alle einen Überlebenskampf und einen Kampf um das Leben nicht nur zu überleben, sondern eines Tages wieder wirklich zu erleben.
Wir lieben dich Hase und wir tragen dich und dein Andenken weiter auch wenn der Weg schwer ist. Denn ich habe dir ein Versprechen gegeben – ein Versprechen, dem sich so viele Menschen angeschlossen haben und dafür bin ich, aber auch dein Papa und deine Geschwister unendlich dankbar. Es ist schwer stark zu sein, doch genau das sind wir geworden. Immer wieder müssen wir unsere Emotionen unter Kontrolle halten, einfach um diesen Weg zu gehen und auch damit ich mein Versprechen einhalten kann. Doch damit wir das schaffen, brauchen wir alle manchmal auch einfach eine ganz bewusste Auszeit – eine Auszeit um ganz bewusst zu trauern, eine Auszeit, die nur für den Schmerz, die Trauer und die Wut freigehalten wird. Nur dadurch schaffen wir es weiter zu kämpfen.
Wir lieben dich kleiner Martin im Regenbogen.

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