Ein ganz "normaler" Tag in unserem Leben

MARTINS VERMÄCHTNIS 🌈💕🌈



Viel zu oft habe ich von Bekannten gehört: „Ma dir geht’s gut, du bist den ganzen Tag zu Hause und bekommst das auch noch gezahlt. Ich muss mein Geld hart verdienen. Ich beneide dich, ich hätte das auch gerne.“ Meine Antwort war prinzipiell: „Bitte, wir können gerne für eine Woche tauschen.“ Bitte versteht mich nicht falsch, ich möchte niemandem Absprechen, dass seine Arbeit anstrengend ist, aber es nervt mich, dass der Großteil der Menschen glaubt, dies bei mir tun zu können. Nur weil ich genau das jeden Tag mache und alles Alltag geworden ist, heißt das nicht, dass es dadurch leichter zu bewältigen ist. Und wie ach so toll ich verdiene, sollte aus den vorangehenden Beiträge hervorgegangen sein. 


Heute möchte ich euch einen ganz „normalen“ Tag aus unserem Leben vorstellen. Um den Rahmen nicht zu sprengen, belasse ich es bei einem entspannten Tag. Unser Tag beginnt um 23:30 Uhr, damit, dass meine Jungs nach etwa zweieinhalb Stunden Schlaf aufwachen. Durch ihre Schlafposition läuft die Windel meistens aus. Das bedeutet, für mich, die Kinder saubermachen und umziehen. Während ich das Bett neu beziehe, trinken die Beiden ihre Milchflasche und dann lese ich eine ihrer Lieblingsgeschichten vor. Da meine Zwillinge sich nachts am besten konzentrieren können - da die ganzen Reize von außen fehlen - machen wir nachts viele Konzentrationsübungen. Anschließend wird wieder gewickelt und dann zusammen geturnt und gespielt. Hierbei widmet sich unser Miro ganz seinen Windrädern, über die er einfach alles weiß. Martin hat entweder musiziert oder Straßen gebaut. Anschließend wird im Bett noch gekuschelt und gelesen, während Martin meist brav zuhört, räumt Miro sämtliche Kästen aus und versucht das trotz Acrylglas auf das Fensterbrett zu klettern. Dann wird Jozefina geweckt und gefrühstückt, hierbei brauchen beide Jungs Unterstützung. Anschließend ist Zähneputzen, waschen, kämmen und für den Kindergarten umziehen angesagt, alles mit starker Gegenwehr. Wenn wir um 7.55 Uhr ins Auto steigen, muss ich die Kinder immer in einer bestimmten Reihenfolge ins Auto setzen und anschnallen, was sich als schwierig erweist, denn während ich Miro in den Sitz setze und anschnalle, darf ich Martin, wegen seiner ausgeprägten Weglauftendenz, nicht von der Hand lassen. Bevor wir losfahren können, muss ich im Auto ein bestimmtes Lied anmachen, das uns jeden Tag am Weg zum Kindergarten begleitet. Wenn wir dort ankommen, muss ich für jedes Kleidungsstück das umgezogen wird, einen eigenen 1-Minuten-Timer stellen, bei dem die verbleibende Zeit angezeigt wird, bevor dieses tatsächlich umgezogen werden kann. In der Zeit in der die Kinder im Kindergarten sind, räume ich als erstes zum wahrscheinlich 10 Mal an diesem Tag, das Zimmer auf, mache anschließend den gesamten Haushalt und koche verschiedene Mittagessen, denn obwohl die Kinder im Kindergarten zum Essen angemeldet sind, essen sie dort selten etwas - aufgrund der Reizüberflutung und ihrer sensorischen Wahrnehmung. (An drei von fünf Vormittagen, finden außerdem Therapien außerhalb des Kindergartens statt. Das heißt von fünf Kindergarten Tagen, bleiben für mich und somit gröbere Hausarbeiten, die ich nicht neben den Kindern machen kann, genau zwei Tage.) Um 12.30 Uhr beim Abholen, bewegen sich alle drei Kinder im Turnsaal, während ich mich mit der Integrationspädagogin über den Tag austausche. Dann setze ich die Kinder in gewohnter Reihenfolge wieder ins Auto, fahre über einen Umweg nach Hause, da es für die Kinder ein wichtiges Ritual ist, an den Windrädern vorbeizufahren, vor allem für Miro, der sich ansonsten selbst verletzt. Zu Hause wird dann gegessen, wobei ich die Zwillinge immer wieder an den Tisch zurückholen und beim Essen unterstützen muss, da sie das lange Sitzen am Tisch nicht aushalten und oft vergessen wie man kaut (wie man abbeißt und kaut, muss ich ihnen immer wieder aufs Neue vorzeigen) oder aber das Besteck benutzt. Da tagsüber Konzentrationsspiele mit den Beiden kaum möglich sind, da sie sich gegenseitig extrem irritieren wird viel getanzt, im Garten gespielt und gelaufen. Das funktioniert gut mit allen drei Kindern. Hierbei ist wichtig, dass alles im und um das Haus gesichert und abgesperrt ist, da die Zwillinge kein Schmerzempfinden oder Gefahrenbewusstsein haben, dafür aber eine ausgeprägte Weglauftendenz. Das bedeutet für mich als Betreuungsperson, dass ich meine autistischen Zwillinge nicht eine Sekunde aus den Augen lassen darf, nicht einmal, um selbst die Toilette aufzusuchen. Wenn mein Mann abends nach Hause kommt, gehen wir mit den Kindern noch zu den Windrädern spazieren, denn auch das gehört zwingend in den Tagesablauf. Zwischenzeitlich muss ich die Buben immer wieder umziehen, da sie keine Nässe am Gewand ertragen, da reicht schon ein Tropfen der beim Trinken auf das T-Shirt rinnt. Die Körperpflege der Beiden gestaltet sich sehr schwierig, da sie sich sehr stark wehren, sei es nun beim Wickeln, Zähne, Nase oder Ohren putzen, Nägel oder gar Haare schneiden, vom Baden oder Duschen ganz zu schweigen. (Jedes Mal wenn ich meinen Lieblingen die Haare schneiden muss, ist es ein ganz eigenes Erlebnis und jedes Mal hab ich abschließend mindestens eine Schnittwunde.) Schließlich um 19.15 Uhr bekommen Miro und Martin ihr Melatonin, werden Bettfertig gemacht, das Zimmer wird abgedunkelt und das rote Nachtlicht eingeschalten – dann bekommen sie ihre Milchflaschen und dazu wird eine Geschichte vorgelesen. Danach wird das Licht abgedreht. Die Jungs stehen dann nochmal auf und gehen etwa für eine Stunde durch das Zimmer, wobei sie Dialoge die sie über den Tag gehört haben wiederholen und trainieren. Da das Sprachverständnis stark eingeschränkt ist, behelfen sie sich mit einstudierten Dialogen. Deshalb ist auch dieses Wiederholen des Gehörten, für sie sehr wichtig. Zwischenzeitlich muss ich sie immer wieder von einander trennen, da sie sich beim Wiederholen des Gehörten gegenseitig irritieren und dann Martin auf Miro losgeht und Miro mit seinem Kopf voller Wucht gegen die Wand schlägt – also trennen und wider singen, bis sie sich beruhigen und ihr eigenes Ritual weitergehen kann. Zwischen 21.00 und 22.00 Uhr schlafen die Beiden schließlich ein und schlafen bis um 23.30, wenn schließlich der neue Tag für uns beginnt. Am Wochenende, wenn Papa da ist, ist unser Tag natürlich etwas leichter -  zumindest für mich.

Seit unser Martin gestorben ist, hat sich an unserer Tagesstruktur nichts verändern dürfen, außer dass jetzt noch das Grab zu besuchen und zu schmücken, sowie für ihn zu singen, ein unabänderbares Ritual in Miros Tagesablauf geworden ist.


Pro Tag, wickle ich  jeden meiner Buben etwa 16 Mal, davon alleine sechs Windeln mit Stuhlgang, pro Kind. Jeden Tag habe ich mindestens zwei bis 3 Touren Wäsche, da jeden Tag Bettwäsche dabei ist. Ich koche zum Mittagessen meist drei verschiedene Gerichte, da Miro und Martin trotz dessen, dass beide frühkindliche Autisten sind, doch sehr unterschiedlich in ihrer Wahrnehmung sind und dennoch nach Möglichkeit alle essenziellen Nährstoffe aufnehmen sollen.

Da beide Jungs kein Gefahrenbewusstsein und Schmerzempfinden haben, dafür aber eine ausgeprägte Weglauftendenz, gilt es täglich darauf zu achten, dass wirklich alles abgesichert, abgesperrt und auch jegliche Bänder Taschen, einfach alles ordentlich verräumt ist, damit sie sich in ihrer Autoaggression nicht gefährlich verletzen, oder gar strangulieren. 

Da sich die Beiden durch ihr eingeschränktes Sprachverständnis, auch nur extrem eingeschränkt verbal äußern können, ist das Verstehen, bzw Erahnen ihrer Bedürfnisse auch nicht leicht.

In meinem Alltag, darf ich als Mutter, nicht eine Sekunde unaufmerksam sein, was allerdings auch unglaublich anstrengend und kräftezehrend ist. 

Durch den Schlafentzug über Jahre (übrigens, eine beliebte Foltermethode, in manchen Ländern), die permanente Abrufbereitschaft, das enorme Stresslevel und kaum bis keine Zeit für meine eigenen Arzttermine, bleibt auch meine Gesundheit auf der Strecke. 

Auch das Sozialleben ist für die ganze Familie eingeschränkt, da die wenigsten Menschen Verständnis für die Herausforderungen mit Autisten haben.

So wie uns geht es vielen Familien. Denn die aufgezählten Auffälligkeiten unserer Jungs, sind keine Seltenheit im Spektrum.

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Kommentare: 2
  • #1

    Christine (Montag, 21 August 2023 00:33)

    Erst einmal grossen Respekt dass ihr das so toll schafft, es hört sich für mich nach einer menschlichen Meisterleistung bzw fast übermenschlichen Leistung an. Und ich finde es unglaublich toll dass ihr hier etwas bewegen wollt, denn Toleranz dem „unbekannten“ gegenüber ist ein extrem wichtiges Thema, sowohl für betroffene, als auch für nicht betroffene Personen um. Was mich wirklich beschäftigt und interessiert, ist das Thema Schlaf. Wenn ich es richtig verstehe, schlafen deine Jungs (und somit auch du - maximal) 2,5h pro Tag. Ich frage mich wie man das auf Dauer durchhält (du und deine Jungs), bzw wie du es schaffst mit derartigem Schlafentzug umzugehen? Vielen Dank für deine Antwort, weiterhin ganz viel Kraft und mein aufrichtiges Beileid für euren Verlust.

  • #2

    Monika (Montag, 21 August 2023 00:51)

    Liebe Christine, erstmals danke für deine lieben Worte.
    Das mit dem Schlafen ist schwierig. Denn unsere Zwillinge brauchen schlichtweg nicht mehr Schlaf, wie es scheint. Ihnen hat man in den seltensten Fällen, irgendeine Form der Müdigkeit angemerkt.
    Für mich selbst, ist es ein über meine Grenzen hinausgehen. Ich bin immer müde. Es gibt auch einzelne Tage, an denen ich dann zum Beispiel im Kindergarten angerufen und gesagt habe, sie können nicht kommen. Schlichtweg deshalb, weil ich mich nicht getraut habe in dem Zustand Auto zu fahren, nicht Mal diese 1,5 km.
    Es gibt dann ehrlich gesagt zwischendurch auch Nächte, in denen ich kein Förderprogramm mit ihnen mache, sondern wir fernsehen und ich einfach nur ihr Überleben sichere. Weil ich einfach nicht mehr kann.
    Tatsache ist aber, dass sich der Körper scheinbar irgendwie daran gewöhnt, wenn er muss. Man ist trotzdem müde und mit der eigenen Gesundheit geht es dadurch auch bergab. Aber ich glaube, dass dieses weit über seine Grenzen hinauszugehen, nur möglich ist, weil man einfach keine andere Wahl hat. Die Hoffnung bleibt, dass unser Miro irgendwann einen - für uns - normalen Schlafrhythmus bekommt.

    Danke für dein Interesse und liebe Grüße Monika