Was bedeutet Autismus für Familien? Teil 8



Unsere Sommerferien gingen weiter und gefühlt mit jedem Tag der vorbeistrich, kehrte mehr Ruhe bei uns ein. Unsere Jungs entwickelten sich. Martin fing langsam an zu sprechen und zwar so, dass wir ihn auch tatsächlich verstanden. Wenn wir alle ruhig und entspannt waren, gelang es ihm manchmal sogar seine Wünsche zu formulieren, natürlich sehr eingeschränkt und jemand außerhalb unserer Familie hätte wohl weiter raten müssen, was er denn genau wollte, aber für uns funktionierte es von Tag zu Tag besser. Wenn er selbst aber nervös war, kam kein verständliches Wort über seine Lippen und es endete in einem, nach außen hin wirkenden, Wutanfall der Extraklasse. Dass dahinter die reine Verzweiflung steckte, war den wenigsten die ihn sahen bewusst, oder aber sie wollten es nicht wahrnehmen. Denn unser kleiner Martin wollte unbedingt mit uns reden, sich unbedingt mitteilen und fühlte sich dann gefangen, wenn es doch wieder nicht funktionierte. Ich kann nur von mir selbst sprechen, wenn ich sage, ich verstehe dieses Gefühl zu gut, wenn man sich versucht seinem gegenüber mitzuteilen und die Nachricht nicht ankommt. Natürlich ist mein Fall anders, denn ich kann Worte anwenden und sie sogar mit Bedacht wählen und dennoch versteht das gegenüber oft nicht was man versucht mitzuteilen, beziehungsweise will es nicht verstehen. Vor allem, wenn einem ein Thema am Herzen liegt, führt das oft zum Gefühl der Verzweiflung. Ich möchte mein Gegenüber gerne schütteln, ihn sozusagen wachrütteln und schreien. Ich würde es so oft so gerne tun, aber ich kontrolliere meine Emotionen, auch wenn es für mich ein sehr langer Weg dahin war. Mein Martin aber konnte das nicht, nämlich gar nicht. Somit wurde es bei uns wieder laut im Haus und nicht nur einmal musste ich durch Martins Verzweiflung meinen eigenen Kopf kühlen, sei es nun ein x-beliebiges Spielzeug, welches plötzlich an Mamas Schläfe landete, oder aber direkt sein Kopf, der mich traf. Denn ja, auch ich interpretierte seine Bedürfnisse nicht immer richtig. Oft brauchte er den Druck von außen, der seinen Körper erdete, bei ihm war es anders als bei Miro, einfach eine anhaltende Umarmung, bei der Druck auf den ganzen Körper ausgeübt wurde. Oft genug ertrug er aber auch gar keine Berührung. Und so geschah es immer mal wieder, dass ich trotz allem einfach falsch reagierte, was dann für keinen von uns beiden angenehm war. Zum Glück wurden diese Situationen über den Sommer weniger. 

Was unseren Zwillingen Miro und Martin aber Schwierigkeiten bereitete, waren Geburtstage. Sie liebten Geburtstage, egal zu wem er gehörte, denn das bedeutete Kuchen und Torte und die lieben Tanten, Onkeln, Cousins, Oma und Opa, Freunde, einfach alle die sie liebten, kamen. Und es ist interessant, denn so wenig sie mit den vielen Reizen klar kamen, so sehr suchten sie danach. Hier galt es immer, einen Ausgleich zu schaffen und sie mal wieder zu erden. Zwei Dinge die immer bei uns helfen, waren Weihnachtsthemen, wie Weihnachtslieder zu singen und dabei den Weihnachtsbaum zu schmücken (ja, auch im Hochsommer) und das Tanzen. Musik war ja schon immer ein ganz wichtiger Teil unseres Lebens. Als Jozefina ihre Liebe zu Kleidern entdeckte, entdeckten unsere Jungs diese ebenfalls. Es faszinierte sie, wie der Stoff eines Kleides an ihrem Körper fiel, wie der Schwerpunkt plötzlich woanders lag als beim T-Shirt und wie sich der der Rock des Kleides drehte und zu ihren Bewegungen mitschwang. Der für mich ehrlicherweise, wichtigste Aspekt hierbei war, dass es ihnen half sich zu beruhigen und zu sich selbst zu finden. Auch wenn wir auch wegen der Kleider wieder viel Kopfschütteln ernteten, sei es nun innerhalb der Familie oder aber im Freundeskreis, war mir das eigentlich immer egal. Denn nein, meine Söhne werden weder schwul durch Kleider, noch wird ihre Beeinträchtigung dadurch größer. Das Einzige was ich dabei sehe, sind strahlende Kinderaugen und vor allem meinen kleinen Martin, der es durch all diese Faktoren schafft zu entspannen und dadurch zu sprechen. 


Schwierig im Sommer ist auch die Hitze, denn die ist für unsere Jungs extrem schwer zu ertragen. Klar niemand steht auf extreme Hitze, durch ihre stark ausgeprägte und sehr feine Wahrnehmung, war es für sie allerdings noch anstrengender. Wir hatten für unsere drei süßen ein Pool aufgestellt, um ihnen so zumindest die tatsächlichen Sommertemperaturen zu erleichtern. Jozefina und Miro nahmen das Angebot freudig an, unser kleiner Martin jedoch verweigerte das kühlende Nass. Zu groß war seine Angst vor der Berührung des Wassers. So rannte er durch den Garten, spielte zumindest mit Wasserbomben, löschte imaginäre Brände mit dem Wasserschlauch oder warf diverse Gegenstände ins Pool – vom Kugelschreiber, über Mamas Handy, bis hin zum Kinderrasenmäher – denn jedes dieser Dinge machte ein anderes tolles Geräusch, wenn es ins Wasser fiel. Auch das Löschen des Feuers,  bzw der Glut, während mein Mann grillte, war für ihn ein absolutes Highlight, vor allem weil Papa sich doch so wunderbar darüber ärgerte. Trotz seiner extremen Angst, eigentlich Panik vor dem Wasser, hatte es eine unglaubliche Anziehungskraft auf ihn. Die Geräusche, welches das Wasser verursacht, egal ob ihm ruhigen Zustand, oder wenn man etwas hinein wirft, die Spiegelungen an der Oberfläche, das Glitzern des Wassers, die Bewegungen im Wasser und wie verzerrt Dinge im Wasser aussehen. Aber sich selbst im Wasser abzukühlen, die Berührung des Wassers zu ertragen, das ging für ihn zu weit. Wir versuchten es in Omis und Opis kleinem Plantschbecken, nach gut drei Stunden, stand er zumindest drinnen. Aber nur die Beine durften nass werden und auch das nur für kurze Zeit. Denn bald darauf war ihm auch das nicht mehr möglich. Auch die Badewanne und die Dusche wurden zum unüberwindbaren Hindernis. Gewaschen wurde er mit einem nassen Tuch und einem Becher und selbst das war sehr schwer auszuhalten. Wir starteten immer wieder neue Versuche, ihn in die Badewanne zu bekommen, schließlich klappte ein Versuch. Dabei hatte ich am Vortag zwei Packungen Wasserperlen aufquellen lassen, diese in die Badewanne gekippt und dann noch etwas warmes Wasser dazugegeben. Es funktionierte, zwar mit einigen Schwierigkeiten und nicht wirklich zufriedenstellend, aber wir schafften es zumindest in die Badewanne und konnten ihn so vorsichtig waschen, während er die Wasserperlen, im Badezimmer verteilte. 

Wer jemals seine Kinder mit Wasserperlen hat spielen lassen, weiß, dass diese zwar für die sensorische Arbeit mit Kindern super toll sind, für Eltern und das anschließende Putzen jedoch das reine Grauen bedeuten. Abgesehen davon, dass ich Ewigkeiten brauchte um alle Perlen vom Boden aufzuheben, hatte ich die Sache mit der Badewanne nicht bedacht. Natürlich hatte ich auch kein feines Abflusssieb im Haus, also fischte ich zuerst den Großteil der Perlen mit dem Küchensieb aus der Wanne um dieses anschließend, auf den Wannenabfluss zu drücken, damit die Perlen, eben dort nicht hineingelangten. Vielleicht habe ich mich auch besonders ungeschickt angestellt, jedenfalls dauerte diese Aufräumaktion nochmal fast zwei ganze Stunden. Aber zumindest hatten wir wieder ein sauberes Kind.

Unser Miro ging mit seiner Überforderung durch die Hitze anders um. Seine Autoaggressivität steigerte sich mit jedem Hitzetag. An einem Tag, hatte ich sie in ihr Zimmer gegeben, um schnell Mehl aus dem Keller zu holen. Ihr Zimmer ist sehr gut abgesichert und ich ging davon aus, dass nichts passieren könnte, schließlich war ja auch vor dem einzig gefährlichen Bereich im Zimmer – nämlich dem Fenster und Fensterbrett – zusätzlich eine 5mm Acrylglasplatte angebracht, damit sie auch ja nicht zu dem Fenster, Fensterbrett, oder Rollo-Bändern kamen. Als ich nach nicht einmal einer Minute wieder oben im Haus ankam, hörte ich ein furchtbar lautes Geräusch, dreht mich zum Kinderzimmer und sah wie Miro zum zweiten Mal mit dem Kopf ausholte und damit gegen das Acrylglas schlug. Ein gerader Riss durch das ganze Acrylglas und damit war es gespalten und bestand plötzlich aus zwei Teilen. Zum Glück ist Miro nichts passiert, bis auf eine kleine Beule auf der Stirn. 

Dennoch raste mein Herz. Wieder hatte ich gelernt, dass Sicher nicht sicher genug ist. Von da an nahm ich meine Jungs wieder mit in den Keller, wenn mein Mann arbeiten war, selbst wenn es nur um 30 Sekunden ging.

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