Was bedeutet Autismus für Familien? Teil 9



Unsere Jungs sind sehr empfindlich auf Geräusche. Bei unserem Martin war es extrem wichtig, dass Töne immer miteinander harmonisierten. Was sich für uns andere richtig anhörte, konnte bei ihm ganz extreme Gefühle auslösen. Oft machten ihm falsche Töne Angst, manchmal nervten sie ihn nur und oft überforderten sie ihn extrem. Ganz schwer für ihn zu ertragen, waren die meisten Kinderlieder, vor allem wenn bei den jeweiligen Aufnahmen tatsächlich Kinder sangen, denn wie es nun mal oft der Fall ist, sind hierbei viele schiefe Töne zu hören – sogar für mich. Für ihn war es unerträglich. Man könnte nun natürlich sagen, dann sollten wir eben keine Kinderlieder abspielen. Tatsache ist aber, dass auch unsere Jozefina, zum Glück, ihren Platz in unserem Familienleben hat und auch ein Recht darauf Kind zu sein. Zu unser aller Leidwesen, liebt sie natürlich Kinderlieder und darf sie selbstverständlich auch hören. Es gab  Abmachungen bezüglich Lautstärke, doch trotz Kopfhörern und Ortswechsel von Martin kam es immer wieder zu „Ausrastern“. Wenn nun zum Beispiel unser Miro, noch dazu Martins Dinos oder Tut-tut-Flitzer Straßen, falsch anordnete und nebenbei der Hund noch bellte, kippte die Situation vollends. All das Schreien, Werfen, um-sich-Schlagen, das während eines Meltdowns folgte, waren nichts im Vergleich zu einem Shutdown. Dieser brach mir immer regelrecht das Herz. Martin setzte sich dann stocksteif in die Ecke des Zimmers, in den kleinen Spalt zwischen Kasten und Wand und starrte einfach nur vor sich hin. Berührungen waren nicht möglich, auf Ansprache reagierte er nicht. Es wirkte so, als wäre sein Körper nur eine Hülle – gleichzeitig waren so viel Emotionen in seinen Augen zu lesen; Angst, Trauer, Hilflosigkeit, Wut und manchmal wirkten sie einfach nur leer. Ich saß dann oft einfach nur hilflos daneben, konnte nur warten, bis er aus seiner Starre „erwachte“ und kämpfte in dieser Zeit mit Schuldgefühlen und Wut auf mich selbst – warum ich nicht früher reagiert hatte, warum ich wieder etwas übersehen hatte. Langsam näherte ich mich ihm, Millimeter um Millimeter und legte meine Hand direkt neben ihm auf dem Boden ab, bis er diese ergriff und langsam wieder ins Hier und Jetzt zurückkehrte und sich schließlich hilflos an mich kuschelte. So ein Shutdown hat bei unserem Martin in der Regel zwischen 30 Minuten und drei Stunden gedauert. Zum Glück kam es äußerst selten vor, dennoch war es für mich eins der schwierigsten Dinge mit denen ich umgehen musste, da ich in diesem Moment nichts für mein geliebtes Kind tun konnte.  

Nicht einmal der Schlafentzug war für mich so zermürbend, wie die Hilflosigkeit.  Obwohl auch der Schlafentzug seine Schwierigkeiten mit sich brachte. Denn neben dem „normalen“ Schlafentzug, gab es dann noch schwierigere Phasen, nämlich jene, wenn sich unsere Buben in einem Entwicklungsschub befanden. Hierbei konnte es durchaus passieren, dass bis zu drei Tage am Stück gar nicht geschlafen wurde – trotz Melatonin. Für Miro und Martin war die Zeit des Entwicklungsschubes ohnehin schon furchtbar anstrengend und aufreibend und dementsprechend waren auch unsere Tage - für niemanden in der Familie angenehm. Ich kämpfte gegen die Müdigkeit, während ich doch keine einzige Sekunde Unaufmerksamkeit zulassen durfte. Und vor allem unsere Jozefina hatte unter diesen Phasen auch sehr zu leiden. Denn egal wie sehr ich und auch mein Mann, uns bemühten, so war doch, sie wieder einmal diejenige die zurückstecken musste, diejenige die trotz ihres jungen Alters mal wieder Rücksicht nehmen musste, diejenige die versuchte die geliebten Brüder zu trösten und die dann doch wieder ihren Ärger abbekam. Unsere Jozefina die mir zusieht, wie ich weit über meine eigenen Grenzen hinausgehe und dadurch mein Verhalten übernimmt. So ein kleines, eigentlich viel zu liebes Mädchen, dass sich einen viel zu großen Rucksack schultert, ein kleines Mädchen, dass mehr Empathie und Liebe in sich trägt, als die meisten Erwachsenen, die ich kenne. Sie hat so unglaublich viele tolle Kompetenzen, die sie in ihrem zarten Alter definitiv noch nicht haben sollte. Und wieder einmal zerreißt es mein Mamaherz, denn eigentlich sollte sie einfach nur Kind sein, Unsinn machen und sorglos sein. Doch stattdessen weicht sie niemandem, der außer Mama und Papa auf die Jungs aufpasst, von der Seite. Denn sie traut es niemandem außer uns zu, wirklich richtig auf ihre Brüder aufzupassen und sich um sie zu kümmern. Und auch zu Hause wartet sie nur auf ihre Möglichkeit uns zu unterstützen.


So sehr unsere kleine Jozefina den Sommer auch und die Hitze auch liebte, so sehr überforderte er unsere Jungs, da er ihre Sinneswahrnehmung einfach ins absolute Durcheinander brachte. Das Wetter war bei uns immer schon ein großes Thema. Der Sommer brachte meist alle Extreme zusammen. Meist war es zu heiß für unsere Jungs. Unser kleiner Martin wollte dann oft gar nicht nach draußen. 

Oder aber es kam Wind auf. Auch dann konnte er schwer vor die Tür. Wenn es dann doch mal funktionierte musste er dann doch meist wieder  getragen werden. Denn der Wind störte ihn ungemein. Jeder der selbst mal ein kleines Baby zu Hause hatte und bei Wind vor die Tür ging, kennt es sicher. Das Baby reist panisch den Mund immer mal wieder auf, hält aber gleichzeitig die Luft an, weil der Wind so irritierend und angsteinflößend ist und das Atmen unmöglich macht. Genauso war es auch bei Martin (bei Miro, war es nicht ganz so extrem). Der Wind machte ihm Angst. Denn er zerrte an seinem Gewand, wirbelte seine Haare herum, brannte in den Augen und nahm ihm die Luft zum Atmen – er versetzte alle Sinne von Martin in Alarmbereitschaft. Sobald also kräftiger Wind aufkam, musste ich ihn tragen, natürlich mit Miro an der anderen Hand. Abgehsehen davon, dass sein Gewicht auf Dauer auf einem Arm zu tragen, gar nicht so ohne war, wurde die Situation dann noch davon erschwert, dass Martin wie Wild um sich schlug, wenn die Reize ihn überfluteten. Oftmals war es auch nötig beide Jungs zu tragen, wobei ich darauf achten musste, dass Martin dann nicht auf Miro einschlug. Einfacher war es natürlich, wenn Papa mit dabei war. Manchmal aber reichte es auch, ihn die Hundeleine halten zu lassen, während ich sie noch ein Stück weiter hinten hielt. Es half ihm, in dem Moment, sich auf den Hund und die Leinenführung zu konzentrieren. Vor Regen hatten beide Jungs auch sehr lange Zeit Angst, dies änderte sich bei Martin allerdings schlagartig vorigen Sommer. Von einem Tag auf den anderen rannte er durch den Regen und lachte dabei aus vollem Herzen. Bei Miro war es ein längerer Prozess und doch rennt auch er nun sorglos und lachend durch den Regen, fast auf den Tag genau ein Jahr später als unser kleiner Martin.

Gewitter waren auch ganz toll und interessant zu beobachten, die Lichter der Blitze gefielen unserem Martin so gut und das Donnern machte ihn überglücklich. Meist verlangte er dann sämtliche Instrumente um in das Grollen des Donners miteinzustimmen. Unser Miro hingegen brauchte für jedes Gewitter seine Kopfhörer, denn sonst endete es oft in selbstverletzendem Verhalten.

Was aber alle Kinder liebten, war das Spazieren gehen am späten Abend, vor allem dann, wenn alles schon dunkel war und viel weniger Autos unterwegs waren, wenn generell der ganze Lärm des Tages sich legte. Denn wenn draußen in der Welt langsam Ruhe einkehrte, dann kam die Ruhe auch zu unseren Jungs – und wenn Miro und Martin entspannt waren, waren wir es zumeist auch alle.

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Kommentare: 3
  • #1

    Eva (Sonntag, 20 August 2023 10:32)

    Liebe Familie!
    Zuerst einmal mein tiefstes Beileid und zunächst meinen höchsten Respekt!
    Respekt...
    - Wie ihr von Beginn an mit der Diagnose umgegangen seid.
    - Wie ihr versucht allen Kindern gerecht zu werden
    - Wie ihr weit über eure Grenzen hinaus geht
    - Wie ihr einen sinnvollen Weg (Aufklärungsarbeit für ein Thema, dass oft nur als Begriff wahrgenommen wird) gefunden habt, das grausame Erlebnis zu verarbeiten
    - Wie ihr euren Weg (weiter)geht

    Alles Liebe!

  • #2

    Karen (Sonntag, 20 August 2023 15:41)

    Liebe Monika,
    Danke für die Aufklärung und die detailreichen Schilderungen aus Eurem Leben. Als Nichtbetroffener hat man das so überhaupt nicht am Radar. Ich finde Deine Initiative daher ganz ganz wichtig und wünsche Dir viel Erfolg damit!
    Ich kann mich noch an die Schlagzeile im Februar erinnern, es macht einen so fassungslos und ich habe jetzt auch viel weinen müssen bei Deinen Zeilen. Umso wichtiger, wie toll Du weiter für Deine Familie und Martins Vermächtnis kämpfst!!! Alles Liebe für Euch!

  • #3

    Brigitta Primesz (Montag, 21 August 2023 07:48)

    Hallo,da ich in Draßburg wohnhaft bin und � dich /deine Mutter nur flüchtig kenne ist es mir ein Anliegen deine Beiträge zu lesen und � zu Teilen.Es gibt nichts schlimmeres was euch passiert ist ich wünsche � euch weiterhin viel Kraft.lg