· 

Das Gedankenkarussell der Grausamkeit

Alles geht weiter wie immer und doch ist nichts mehr, wie es einmal war.  Da sind sie, meine treuesten Wegbegleiter - die Trauer, die Wut, der Schmerz. Ich habe Angst, dass der Wahnsinn in meinem Kopf die Oberhand gewinnt.

Es sind meine eigenen grausamen Gedanken, die meine Seele martern. Gedanken, die ich nicht abstellen kann. Sie kreisen in meinem Kopf und hören erst wieder auf, wenn ich mich mit ihnen auseinandersetze. Zumindest für kurze Zeit, bis sie sich wieder langsam in mein Herz und in meinem Kopf schleichen. Und manchmal sind die einfach da, unangekündigt und wie eine eiserne Hand schließen sie sich um mein Herz. Mein Herzschlag scheint auszusetzen, um nur Sekunden später zu rasen, als wollte mein Herz explodieren, meine Hände werden feucht, die Welt wird leise, ich höre das Blut in meinem Körper rauschen, die altbekannte Übelkeit ist wieder da, die Welt vor meinen Augen verschwimmt, in meiner Brust entsteht dieses furchtbare Engegefühl und mir schnürt es die Luft ab, ich kann nicht mehr atmen, da ist keine Luft mehr. Ich hole dein wunderschönes perfektes Gesicht in meine Gedanken, dein Grübchen und dein verschmitztes Lächeln. Ich muss dabei aufpassen, meine Gedanken nicht kreisen zu lassen. Denn sonst trifft mich die Grausamkeit mit voller Härte. Doch ich kann es nicht mehr aufhalten und obwohl ich weiß, was gleich kommen wird, kann ich nicht mehr abbrechen. Ich sehe wie dein Lächeln erstarrt, deine Augen weit aufgerissen und leer und wie dein hübsches Gesicht verwandelt – verwandelt zu einer Fratze, ich sehe wie dein perfektes Antlitz zu verwesen beginnt. Ich muss mich wieder übergeben. Wenn ich nicht auf meine Gedanken aufpasse, dann wandern sie an diesen Punkt. Und da gibt es auch kein Zurück mehr. Der Wahnsinn schleicht sich an und immer und immer wieder muss ich ihn zurück kämpfen. Ich denke an meine bezaubernde Jozefina und meinen süßen Miro, für die ich da sein muss, die ich nicht im Stich lassen darf, die eine wahnsinnig gewordene Mama, nicht auch noch verkraften könnten. Ich zähle, so wie damals mit dir. Bis 100 und wieder zurück, auf deutsch, englisch, kroatisch, spanisch und manchmal noch ein zweites Mal, dabei denke ich ganz fest an deine Geschwister.
Und dennoch sind sie immer wieder da, die Gedanken die mein Herz durchbohren, mein Gehirn um den Verstand bringen. Ich sitz an deinem Grab, überall ist Frost und ich kann die Tränen nicht aufhalten. Ich weiß wie sehr du das Leben geliebt hast, wie dein freches Lachen, allen ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hat, ich weiß, aber auch, wie sehr du die Kälte verabscheut hast, jede Winternacht, hast du nach deinen Schlafsocken gefragt, dich in deine Decke gehüllt und dich ganz eng an mich gekuschelt. Du hast die Dunkelheit gehasst, du hattest so große Angst davor, dein rotes Nachtlicht durfte nie ausgehen. Und auch wenn ich rein rational weiß, dass du das Alles nicht mehr wahrnimmst, so zerreißt mich der Gedanke, dass du alleine in einem kalten, dunklen, feuchten Grab liegst – wieder dieser Schmerz in der Brust, und diese riesengroße Sehnsucht, die mich fast um den Verstand bringt. „Du fühlst das nicht, du fühlst das nicht, du fühlst das nicht… Denn du bist tot…“ Meine Tränen laufen, sie brennen auf meinen kalten Wangen und meine Gedanken wandern weiter, ich kann sie nicht mehr aufhalten, ich bin gefangen – gefangen in meinem eigenen Gedankenkarussell. Da bin ich wieder, ich stehe neben dir, du liegst da neben dem Wasser, deine Augen weit offen, mit starrem Blick in den Himmel, auf deinem Gesicht, das wirkt als wäre es aus Porzellan und auch in deinen Augen, überall sind diese Wassertropfen – Wassertropfen von dem Wasser, indem du qualvoll ertrunken bist und du warst ganz allein, niemand war an deiner Seite, mein Baby. Ich sehe mich wie ich das Handy an mein Ohr halte und sage, „Mama, hört auf zu suchen, er wurde gefunden.“ Ich höre das zaghafte Aufatmen am anderen Ende der Leitung. Ich weiß, dass ich im Begriff bin etwas Furchtbares zu sagen, ein weiteres Leben zu zerstören. „Mama bitte komm, Mama mein Baby, mein kleines Baby. Mama, mein Martin ist tot. Sie reanimieren ihn gerade.“ Ich sehe, wie ich in die Knie sinke und dich ansehe, unfähig dir zu helfen – unfähig mein Versprechen einzuhalten. Als ich dich und deinen Zwillingsbruder das erste Mal in meinen Armen halten durfte, habe ich versprochen euch immer zu beschützen, immer für euch da zu sein. Nichts und niemand würde euch je etwas anhaben können. Ich habe mein Versprechen nicht gehalten, mein kleiner Hase, ich habe versagt. Die Schuldgefühle schnüren mir die Luft ab, ich kann nicht mehr klar denken. Wieder sehe ich mich, dieses Mal, sehe ich mir dabei zu, wie ich nach dir suche. Ich frage nach in welche Richtung du gelaufen bist, niemand kann mir eine richtige Antwort geben, alle erklären mir nur, sie waren nicht dabei. Ich sehe dein Integrationspädagogin im Feld, hinter dem Bach, der die Wiese, von der verschwunden bist und das Feld, in dem gesucht wird voneinander trennt. Ich weiß, du bist im Wasser, ich kann es spüren und ganz tief drinnen, weiß ich, dass ich dich nicht mehr lebend wieder sehen werde. Ich versuche diesen Gedanken zu verdrängen und laufe in den Bach, ich rufe, deinen Namen, ich schreie nach dir. Ich laufe durch den Bach, doch du bist nicht da. Irgendwann komme ich wieder nach oben auf die Wiese, ich sehe die zwei Hügel und die Straße dahinter. Mein Bauchgefühl sagt ich muss, dort rauf. Doch das erste Mal in meinem Leben höre ich nicht auf meine Intuition – nein ich höre auf meinen Kopf. Denn der Bach ist naheliegend, deine Pädagogin, sucht sogar dahinter, also musst du doch in diese Richtung gelaufen sein, die Richtung die mein Bauch angibt, ergibt keinen Sinn. Ich muss den Bach noch in Richtung Stadt nach dir absuchen, was wenn du dort bist.
Dieser Fehler meinerseits, wird mich mein restliches Leben verfolgen. Hätte ich meinem Gefühl vertraut, hätte ich dich mit Sicherheit gefunden. Ich weiß nicht ob es etwas verändert hätte, aber der Gedanke, dass du vielleicht noch Leben würdest, wenn ich auf mein Gefühl und mein Herz vertraut hätte, statt auf andere – wird mich nie wieder loslassen, die Schuldgefühle mich für immer quälen.
Ich glaube nicht an eine Hölle nach dem Tod. Ich lebe bereits in dieser meiner ganz persönlichen Hölle und es gibt kein Entkommen, denn nichts auf dieser Welt, kann deinen Tod ungeschehen machen. Nichts kann mir dich wieder zurück bringen. Du wurdest diesem Leben entrissen und ich habe versagt, ich habe mein Versprechen gebrochen.
Ich merke, wie die Welt wieder anfängt zu verschwimmen und leise zu werden und ich beginne wieder zu zählen. So dürfen Jozefina und Miro mich keinesfalls sehen, niemals. Sie dürfen meine Trauer sehen, aber nicht den Wahnsinn. Ich zähle weiter. Ich denke an deine Geschwister, ich denke an dich – ich denke an uns zusammen, als Familie. Ich höre dein Lachen und deine bezaubernde Stimme – da ist es, ein Lächeln in der Trauer, obwohl mein Herz schmerzt, spüre ich dennoch das Glück, wenn ich an dich denke, an unser Leben wie es war.
Das Leben ist so unglaublich schwer ohne dich, kleiner Martin. Ich bin so froh, dass wir Jozefina und Miro haben. Denn in all diesem Schmerz, sind sie das Glück, sie sind mein Licht in der Dunkelheit, der Grund warum wir kämpfen müssen. Sie sind das Einzige, dass meine Seele wärmen kann. Wir begleiten uns in unserer Trauer, dem Schmerz, der Wut. Wir sind als Familie noch enger zusammen gewachsen, auch wenn ich vorher nicht geglaubt hätte, dass dies möglich ist. Sie sind mein Lichtblick, immer und überall und sie sind mein Anker, wenn das Gedankenkarussell beginnt. Deine Geschwister und dein Vermächtnis ist alles was wir noch haben - Unser Weg, den wir gehen müssen.
Du fehlst mir mein Hase, in jeder einzelnen Sekunde. Und jetzt in der Weihnachtszeit, ist der Schmerz unerträglich. Du warst, so wie ich, schon im September bereit für die Vorweihnachtszeit, diesen Wahnsinn hast du wohl auch von mir gehabt. Die Weihnachtszeit hat uns immer beruhigt und so viel Freude gebracht. Doch jetzt treibt die Weihnachtszeit mein qualvolles Gedankenspiel noch zusätzlich an. Während in mir ein Orkan tobt und versucht mein Herz verstummen zu lassen, tanze ich lächelnd mit deinen Geschwistern durch die Küche, während wir Weihnachtslieder singen. Der Wahnsinn in meinem Inneren, muss jetzt warten.

 

Ich liebe dich mein Hase – Ich liebe dich mein wunderschöner Martin im Regenbogen.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0