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Was bedeutet Autismus für unsere Familie? Teil 16

 

 

…Martin war mittlerweile gar nicht mehr von mir zu lösen, sobald ich sein Blickfeld verließ, schrie er panisch nach mir, was unseren Alltag nicht unbedingt erleichterte. Umso größer war allerdings die Freude darüber, dass die Ankündigung des Mitmach-Theaters im Kindergarten, so ein Interesse und eine große Vorfreude in ihm geweckt hatte, dass er unbedingt dabei sein wollte. Ich war erleichtert – wusste ich doch, wie sehr er solche Vorstellungen liebte. Und so war es auch dieses Mal. Während der Vorstellung war Martin nicht zu bremsen und wollte unbedingt ein Teil der Vorstellung sein. Er war glückselig an diesem Tag im Kindergarten. Zu Hause merkte man ihm die Überforderung allerdings schnell an - an diesem Nachmittag war er wahnsinnig gereizt. Zu Spüren bekamen das ganz schnell Jozefina und Miro, jedes Mal, wenn sie seinen Weg kreuzten und Mama nicht schnell genug zur Stelle war. Denn sowie jemand an ihm vorbei ging, warf er mit allem, was er gerade in die Hände bekam. Jozefina war verzweifelt – einerseits war sie einfach nur genervt und andererseits wusste sie, dass er in diesem Moment einfach in seiner Haut feststeckte und gar nicht absichtlich böswillig handelte. Also wollte sie unbedingt dabei helfen, nach einer Lösung zu suchen. Nachdem Martin in solchen Situationen keine Körpernähe zulassen konnte, und auch nicht gewillt oder aber fähig war, meinen Anleitungen zu folgen, mussten wir umdenken. Also wurden kurzerhand die Decken zweckentfremdet und auf den Boden gelegt, Jozefina schnappte sich Miro und setzte sich zusammen mit ihm auf die Decke. Ich nahm zwei Ecken in die Hand und zog die Kinder auf der Decke durch das Haus. Martin beobachtete uns eine Zeit lang skeptisch und kam dann schließlich angerannt, mit den Worten: „Martin auch, ziehen!“
Also übergab ich ihm die Deckenenden und er zog mühevoll seine beiden Geschwister durchs Haus. Es bereitete allen eine riesen Freude und Martin schien sich durch das Gewicht, dass er zog und durch die Kraft die er anwenden musste, immer weiter zu entspannen. Jozefina sah mich strahlend und erleichtert an. Einmal mehr, zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. „Mein liebes Mädchen. Du bist so klein und doch ist dein Rucksack schon jetzt viel zu groß. Du trägst so viel Lieb und Güte in dir.“  Für meine Kinder habe ich mir nie etwas anderes gewünscht als eine glückliche und unbeschwerte Kindheit. Auch wenn wir unser bestes taten, würde Jozefinas Leben nie unbeschwert sein, da sie immer so fixiert war, auf das Glück ihrer Brüder. Gleichzeitig war ich froh, über die tolle Begleitung die sie durch ihre Kinderpsychologin hatte, da sie es, durch die zusätzliche Bestärkung von außen, wenigstens schon manchmal schaffte, ihre Bedürfnisse nicht hinten an zu stellen – was wiederum mir viel bedeutete.
Für unseren Miro und Martin, war es in meinen Augen immer ein Segen, dass beide Autisten sind – auch wenn meine Aussage, dass ich froh darüber bin, dass die Diagnose beide Jungs betrifft, immer wieder für Entsetzen und Kopfschütteln sorgte. Es mag sich auch komisch anhören, aber für mich war das zumindest das Glück meiner Buben betreffend, ein Segen. Denn egal wie sehr ich mich auch bemühte zu verstehen, ich würde es nie in dem Maße verstehen, so wie sie. Egal wie schwierig es auch sein würde, sie wären immer zu zweit, sie hätten immer einander, immer jemanden an ihrer Seite, der echtes Verständnis hat; jemanden der die Situationen selbst kennt und selbst durchlebt. Einzig für meine Jozefina, erleichterte es ihren Rucksack nicht unbedingt und dennoch liebte sie ihre Brüder, mit all ihren Eigenheiten, über alle Maßen. Wobei ich bis heute nicht weiß, ob es für sie einen Unterschied gemacht hätte, wenn nur einer von Beiden Autist gewesen wäre.
Mit diesen Gedankengängen schlief ich in dieser Nacht auch ein, nur um dann komplett nass aufzuwachen. Martin hatte sich im Schlaf quer über mich drüber gelegt und natürlich war durch seine merkwürdige Schlafposition, seine Windel – so wie nahezu jede Nacht – ausgelaufen, nur diesmal war ich eben auch involviert. Also vorsichtig unter ihm raus schälen, duschen umziehen. Kaum kam ich aus dem Bad, hörte ich ihn schon im Bett herumwuseln. Als ich ins Zimmer kam sah ich Miro mitten im Zimmer am Fußboden sitzen und Martin, der auch schon am munter werden war. Also wieder mal Kind sauber machen und umziehen. Wie jede Nacht hob ich meine schlafende Jozefina vorsichtig hoch und legte sie auf das andere Bett, um die Bettwäsche abziehen, neu beziehen und waschen zu können. Bis zum heutigen Tag, bin ich erstaunt, begeistert und erleichtert darüber, welch unglaublich tiefen und festen Schlaf, sie von ihrem Papa geerbt hat. Wir konnten unser gesamtes nächtliches Programm, neben ihr gestalten, ohne dass sie auch nur ein einziges Mal aufwachte.
Auch zum Wochenende hin, schien es für den kleinen Martin nicht leichter zu werden, sich von mir zu trennen. Als ich schon überlegte, den Termin beim Tätowierer abzusagen, wurde mein großer Martin allerdings richtig ärgerlich. „Du hast so lange gewartet und dich schon so sehr darauf gefreut. Trau dich nicht jetzt abzusagen. Ich bin da und die Kids und ich wir schaffen das schon. Mach dir keine Gedanken. Bitte mach das jetzt – für Dich!“
Und so fuhr ich mit einer Skizze, die für mich gemacht wurde und einer ungefähren Vorstellung, los. Mein Tätowierer bat mich eine eigene Skizze anfertigen zu dürfen, die seiner Meinung nach besser zu mir und unserer Situation passen würde. Als ich die fertige Skizze sah, war ich hin und weg und überglücklich, dass mein Mann darauf bestanden hatte, dass ich meinen Termin wahrnehme. Und tatsächlich war es für mich eine wirklich „angenehme“ Auszeit vom Alltag, auch wenn mir bereits bewusst war, dass ich diese „Auszeit“, in der folgenden Nacht höchstwahrscheinlich teuer bezahlen würde. Dennoch freute ich mich schon wahnsinnig auf den zweiten Termin, bei dem das Tattoo dann fertig werden sollte. In meiner Abwesenheit, war zu Hause alles – zumindest für unsere Verhältnisse – wunderbar gelaufen. Die Nacht war allerdings tatsächlich alles andere als einfach. Bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit, versuchte Martin seinen Bruder Miro zu attackieren, oder aber Jozefina zu wecken. Also trug ich zumindest Jozefina zu ihrem Papa ins Zimmer, damit wenigstens sie in Ruhe schlafen konnte.
Diese extreme Fixierung vom kleinen Martin auf meine Person dauerte noch zwei weitere Tage an. Danach durfte zwar weiterhin alles nur die Mama machen, aber zumindest war es auf ein für alle erträgliches Maß gesunken. Zum Glück, denn mein Mann musste zu Beginn der neuen Woche für vier Tage nach Oberösterreich, zu einer Schulung.
Um ein Vielfaches entspannter, als die Woche zuvor, starteten wir in die neue Woche – ohne Papa. Und tatsächlich war es erstaunlich ruhig in unserem zu Hause, auch wenn Jozefina ihren Papa abends ganz besonders vermisste. Ihr Weinen machte allerdings unseren Miro wahnsinnig nervös. Nachdem bei ihr die Tränen getrocknet waren, hieß es schließlich fertig machen fürs Bett. Ich merkte, dass Miro noch immer sehr angespannt war, als ich aus dem Zimmer ging um die Milchflaschen der Jungs zu holen. Keine 30 Sekunden später hörte ich, wie etwas auf gegen den Wand knallte, dem Geräusch nach, handelte es sich um einen Kopf, was mir von Jozefinas schrillem „Mamaaaa“ bestätigt wurde. Als ich wieder ins Zimmer lief, sah ich wie Jozefina den kleinen Miro festhielt, damit er nicht weiter mit dem Kopf gegen die Wand schlagen konnte. Ich hob ihn hoch und sah mir die riesen Beule am Kopf an, während ich noch darüber nachdachte, dass diese unbedingt gekühlt gehört, stand Jozefina schon weinend mit dem Cool-Pack vor mir, da sie das Gefühl hatte, dass es ihre Schuld gewesen wäre. Während ich also Miro, mit starker Gegenwehr, versuchte den Kopf zu kühlen, legte ich gleichzeitig meinen Arm um meine Jozefina und erklärte ihr, dass es definitiv nicht ihre Schuld wäre. Da die Schlafenszeit nun natürlich wieder um mindestens drei Stunden nach hinten verschoben werden sollte, machten wir es uns am Sofa gemütlich und videotelefonierten mit dem großen Martin, der ganz verzweifelt war, als er Miros Kopf sah.
Man mag sich nun vielleicht fragen, warum wir damit nicht ins Krankenhaus gefahren sind. Lange Rede, kurzer Sinn – das war nicht das erste Mal und mittlerweile kannte ich mich auch schon wirklich gut aus, worauf ich bei Miro achten musste. Nur schlafen konnte ich auch dann nicht, als die Kinder es schließlich taten - denn in meinem Kopf, ratterten wieder die Gedanken, dass das auch hätte anders enden können, vor allem, da unser Miro, beim Aufprall mit dem Kopf gegen die Wand, scheinbar keinen Schmerz spürte….

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