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Was bedeutet Autismus für unsere Familie? - Teil 15

Die Veränderung bei unserem kleinen Martin war deutlich spürbar, aber einordnen konnten wir sie nicht. Und so kam der 19. September 2022 – ein Tag, der wie jeder andere für uns alle begann, also der ganz normale Wahnsinn. Der einzige Unterschied war, dass Martin immer wieder, von sich aus, meine Nähe suchte. Da ich das nur in absoluten Ausnahmesituationen kannte, nämlich, wenn er krank war (was sehr selten vorkam), wurde gleich einmal Fieber gemessen. Hm, Normaltemperatur – ein Blick mit der Taschenlampe in den Hals – nicht gerötet. Er wirkte auch absolut fit. So ganz konnte ich mir keinen Reim darauf machen. Es blieb dann auch gar nicht großartig Zeit darüber nachzudenken, da Miro im nächsten Moment, mal wieder, seinen Wasserbecher bestaunte, nur um ihn, Sekunden später, am Küchenboden auszuleeren und dann in der tollen Wasserpfütze herumzuspringen. Ich hasste es. Das war eines der Dinge, wo ich mich wirklich zusammennehmen musste, um nicht zu explodieren. Während ich das große Handtuch zum Aufwischen holte und anschließend begann den Boden damit trocken zu wischen, hörte ich hinter mir verdächtig leise Schritte. Doch ich war mal wieder zu spät. Martin hatte seinen Becher ebenfalls ausgeleert. Gefolgt von begeistertem Lachen und Springen von beiden unserer Buben. Die Möglichkeit dazu, hatte er allerdings nur, da ich die Jungs zwar ins Zimmer gebracht, aber vergessen hatte, das Treppenschutzgitter ordentlich zuzuziehen. Also hieß es für mich „TIEF DURCHATMEN“. Also brachte ich die Beiden wieder ins Zimmer und diesmal achtete ich auch darauf, das Treppenschutzgitter ordentlich zu verschließen, damit ich in Ruhe den, mittlerweile schwimmenden, Küchenboden trockenwischen konnte. Miro und Martin sahen mir dabei interessiert vom Zimmer aus zu. Nachdem das Chaos beseitigt war, konnten wir ganz normal unseren Tagesablauf weiterlaufen lassen.
Ich muss sagen, dass ich an diesem Tag richtig froh war, als es endlich Zeit war in den Kindergarten zu fahren. Doch schon am Weg in den Kindergarten fing Martin an, im Auto wild um sich zu schlagen, zu weinen und zu schreien. Ich war etwas ratlos, hatte ich doch unser gewohntes Prozedere strickt verfolgt. Da er sich weigerte zu gehen, musste ich ihn also vom Auto in den Kindergarten tragen. Natürlich ließ sich daraufhin auch Miro fallen und weigerte sich auch nur einen Schritt zu machen – also musste ich auch ihn tragen, während von Jozefina nur ein dezent genervtes „Nicht schon wieder“ kam. Als wir dann endlich drinnen waren setzte ich die Beiden auf die Garderobenbank und während Miro sich an den Ablauf hielt und bereits nach zehn Minuten mit seiner Integrationspädagogin am Weg in die Gruppe war, schlug Martin weiter um sich. Er warf sich auf den Boden und brüllte und weinte dabei. Es dauerte ganze 15 Minuten bis er sich, fest umschlungen in meiner Umarmung beruhigte – was auch für mich nicht einfach war, da er eine enorme Kraft hatte. Er klammerte sich an mich und weinte nur noch leise und dazwischen hörte ich plötzlich „Martin mit Mama nach Hause fahren.“ Ich sah ihn verwundert an und fragte ihn ob er nicht in den Kindergarten wollte und warum er nach Hause wollte. Es dauerte etwas bis ich die Antwort verstand und da wurde mir klar, dass Martins Veränderung, die vor sich ging, noch viel größer war als angenommen. Denn es ging ihm nicht um den Kindergarten oder sein zu Hause – es ging ihm rein darum, dass er bei Mama bleiben wollte, da er mich sonst vermisst. Und ich? Ich war einfach sprachlos. Das mag bei vielen jetzt für Unverständnis sorgen, ist so eine Aussage eines Kindes an sich nichts Ungewöhnliches. Doch in diesem Fall war es für mich wie ein kleines Wunder. Denn Trennungsschmerz kannte unser Martin eigentlich gar nicht. Es schien immer so, als wäre es ihm vollkommen egal, ob wir Eltern anwesend waren oder nicht. Selbst als mein Mann und ich, damals zwei Tage in Salzburg waren und die Familie, mit vereinten Kräften, die Kinderbetreuung übernommen hatte, war Martin scheinbar vollkommen egal, dass wir wieder nach Hause kamen. Nicht einmal als Baby hatte er „gefremdelt“.
Also ja, dieser Trennungsschmerz war für mich ein riesiges Wunder. Und während mein Martin sich an mich kuschelte, kullerten bei mir nur die Tränen. Ich konnte sie nicht zurückhalten. Ich hatte nicht erwartet und nicht einmal zu träumen gewagt, dass dieser Tag jemals kommen würde – dass diese Liebe jemals so spürbar wäre. Und als ich merkte, dass auch ich weinte, galt es den Tränen Einhalt zu gebieten und mich wieder voll auf meinen kleinen Martin zu konzentrieren.
Insgesamt dauerte es fast eine dreiviertel Stunde und viele Erklärungen meinerseits und von seiner Integrationspädagogin, bis Martin schließlich sichtlich unzufrieden mit ihr mitging. Mit seiner Pädagogin hatte ich nochmal abgesprochen, dass sie mich bitte anrufen möge, wenn sie merkte, dass es ihm zu viel war.
Zu Hause angekommen, war die Vorfreude auf die Ruhe dann verpufft und nun ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Ich war zwar unendlich glücklich, dass dieser sehr wichtige Schritt gekommen war, aber zeitgleich vermisste ich meinen kleinen Prinzen und wollte ihn eigentlich einfach nur kuscheln und in meinen Armen halten.
Nachdem ich mich selbst wieder einigermaßen im Griff hatte, rief ich meinen Mann an, um ihm diese unglaublichen Neuigkeiten zu erzählen. Auch er war wahnsinnig gerührt und fügte dann aber ganz leise und mit Traurigkeit in der Stimme, hinzu: „Glaubst du, wird er auch jemals traurig sein, dass ich weggehe?“ Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte - denn Ehrlichkeit, war das was zwischen uns Eltern das Wichtigste war. Natürlich wollte ich meinen großen Martin nicht traurig machen, aber ich wollte auch keine falschen Hoffnungen wecken. So blieb mir nur zu sagen: „Ich weiß es leider nicht, aber ich hoffe es.“
Wenn ich über den fehlenden Trennungsschmerz und unseren damit einhergehenden Schmerz gesprochen habe, bin ich sehr oft auf ungläubiges Unverständnis gestoßen, da sehr viele Eltern der Meinung waren: „Sei doch froh, dass euch dieses Drama erspart bleibt.“ Doch für mich, war es ein unglaubliches Geschenk – auch wenn einige das nicht nachvollziehen mögen.
Als ich meine drei Helden vom Kindergarten abholte, lief mir Martin sogar freudestrahlend in die Arme – nur um dann Sekunden später umzudrehen, weil er noch spielen und nicht nach Hause wollte.
Von diesem Tag an, wurde die Bring-Situation im Kindergarten zwar schwieriger, aber mein Herz war von einer unglaublichen Ruhe und Liebe erfüllt. Es folgten tatsächlich auch Tage, wo ich ihn früher abholen musste und auch welche, wo ich ihn erst gar nicht im Kindergarten lassen konnte. Und auch wenn mir dadurch, dass bisschen Zeit, das ich für mich habe, fehlte, fühlte ich mich so Stark und Ausgeglichen wie nie zuvor in der ganzen Zeit.
Am 22. September sollte das Theater in den Kindergarten kommen und ich wusste nicht ob er dortbleiben würde, dabei war ich mir ganz sicher, dass es ihm gefallen würde.
Und auch um meinen Tattoo-Termin machte ich mir ganz egoistisch sorgen. Denn schon seit uns klar wurde, dass Miro und Martin im Spektrum waren, war es mein Wunsch das auf meiner Haut zu verewigen. Das mag für viele merkwürdig klingen, für mich war es ein Weg der Verarbeitung und etwas wirklich Wichtiges. Das wusste auch meine Familie und obwohl Tattoos nicht auf der Wunschliste meiner Eltern, für ihre Kinder standen, hatte ich doch zu meinem 30. Geburtstag, dieses Gemeinschaftsgeschenk von Familie und Freunden bekommen, da sie wussten, wie viel es mir bedeutete. An dieser Stelle, danke euch allen nochmals. Heute bedeutet es mir noch so viel mehr, als ich zum damaligen Zeitpunkt wissen konnte.
Für mich blieb nun abzuwarten, ob ich den Termin auf den ich eigentlich fast zwei Jahre gewartet hatte, nun wahrnehmen konnte oder nicht…

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Kommentare: 1
  • #1

    Babsi (Dienstag, 20 Februar 2024 15:35)

    Liebe Familie,
    ich denke heute ganz besonders an euch und Martin und schicke euch viele Sonnenstrahlen. Fühlt euch umarmt!